Leseprobe

Der Mensch – ist wohl ein Geheimnis. Das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Leute – ist wohl ein Geheimnis. Das größte Geheimnis ist das Kind.
Janusz Korczak

Kapitel 1

Als mein Sohn Malik geboren wurde, war ich 33 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits Mutter einer fast zweijährigen Tochter. Verheiratet war ich mit meiner großen Liebe, der ich im Alter von 29 Jahren begegnet war. Er war mein Traummann und noch dazu ein absoluter Frauenschwarm.

Bis auf den normalen Kleinkindstress mit meiner Tochter, war mein Leben eigentlich ziemlich in Ordnung. Ich hätte meinen Mann gerne öfters gesehen, deswegen das Wörtchen eigentlich. Das wäre der Wunsch gewesen, wenn eine Fee mit ihrem Zauberstab gekommen wäre, um mein Leben perfekt zu machen.

Er veranstaltete Konzerte und Festivals und war deswegen viel, gerade an den Wochenenden, unterwegs. Doch jetzt war der Zeitpunkt der Geburt unseres zweiten Kindes gekommen und mein Mann war an meiner Seite. Das Warten auf das Ankommen unseres Babys dauerte, und viele Stunden zogen vorbei, ohne das etwas Aufregendes passierte.

Es sollte diesmal ein Junge werden. Ich war, wie bei der ersten Geburt, wahnsinnig angespannt, während mein Mann unterfordert war. Ich hätte gerne seine Rolle übernommen und den Dingen seinen Lauf gelassen. Einen Jungen gab es schon seit vielen Generationen nicht mehr in meiner Familie.

Wie wird er aussehen? Wie wird es sein, wenn er mal seine erste Freundin mit nach Hause bringt? Wie pflegt man überhaupt einen Jungen und seinen kleinen Unterschied zu einem Mädchen? Ich freute mich auf die neuen Gefühlswelten, die ein anderes Geschlecht mit sich bringen würde.

Die Geburt meines ersten Kindes war nicht unkompliziert und diese hier sollte es, wie es aussah, auch nicht werden. Es gibt Frauen, die im Vorbeigehen am Kreissaal ihr Kind bekommen, ihre Sachen und ihr geborenes Kind einpacken, den Schwestern ein Geschenk in die Hand drücken und wieder fröhlich winkend nach Hause fahren. Dieses Glück hatte ich leider nicht.

Vielleicht wusste mein Kind damals schon, wie ihm manche Menschen in dieser Welt begegnen würden. Davor wollte er sich doch noch im letzten Moment drücken. Er wollte nicht wirklich seine warme, geschützte Höhle verlassen, so dachte er sich wohl, „Bleibe ich mal im Geburtskanal stecken, vielleicht kann ich dann noch das Schlimmste verhindern!“ Als ich nach langer Quälerei Fieber bekam, mussten sie ihn mit der Saugglocke holen. So sah er dann auch aus.

Er war nicht so schön und niedlich, als er in meinem Arm lag, doch wie sollte er, nach dieser Tortur. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, dachte, dass es wie bei meiner Tochter werden würde. Durch sie war ich verwöhnt, was das Aussehen eines Neugeborenen betraf. Sie hatte die Erscheinung eines vorbereiteten Fernsehneugeborenen. Ihr Anblick hätte die Geburtenquote in die Höhe schnellen lassen.

Malik hingegen musste mit der Saugglocke geholt werden, deren Spur durch einen roten Rand auf seinem großen Kopf sichtbar war. Eigentlich zeigte er hier schon einen mürrischen, unzufriedenen Ausdruck. Hier hätte ich schon hellhörig werden müssen, sowie die sphärischen Stimmen beachten sollen, die mir die Anweisungen dieses Kindes einflüstern wollten.

Viele solche zerknautschten Babys kannte ich aus Zeitschriften. Jedes Mal wieder schmunzelte ich über die verliebten Blicke der Mütter zu ihren hutzeligen Babys. Ich fand manche dieser kleinen Gestalten gleich nach der Geburt nicht wirklich niedlich, dass konnte man doch auch mal ehrlich sagen. Doch so ein eigenes zerknautschtes kleines Wesen in den Arm zu bekommen war etwas anderes. Ich lernte eine andere Art von Liebe kennen.

Etwas Schönes zu lieben ist leicht, gerade für mich persönlich hatte das äußere Erscheinungsbild einen viel zu hohen Stellenwert, und hier hatte der Beginn dieser Liebe eine andere Voraussetzung. Und ich liebte ihn sofort ohne Grenzen. Endlich verstand ich das Geheimnis der verliebten Blicke dieser Zeitungseltern, bei denen ich vor mich hingelächelt hatte.

Das Siegel unserer Verbundenheit gab er stillschweigend durch seine Geburt an mich weiter. Wir beide verstanden es, dazu musste er nicht schön aussehen.

Über seinen Namen hatte ich mir damals keine großen Gedanken gemacht. Ich kannte nur Mädchennamen, denn in unserer Familie gab es bisher nur Mädchen. Und die Männernamen die ich kannte, passten nicht zu einem Baby. Der Vorschlag kam von meinem Mann. Heute finde ich, dass es der absolute Treffer war: Malik ist arabisch und bedeutet „der barmherzige Herrscher und Richter“ und das lebte er in all seinen Jahren für sich.

Er hielt mich schon im Krankenhaus auf Trab. Er trank und schlief unruhig, weinte viel, somit zeigte sein Stimmungsbarometer ständig Unzufriedenheit an und meines gleich mit. Es fehlte nur noch, dass er den Mund aufmachte und mit mir schimpfte, weil ich ihn hier auf die Erde geholt hatte.

Als wir nach einer Woche endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden, ging der Alltag für mich weiter, nur jetzt mit zwei Kindern.

Malik wurde beim Stillen nicht genügend satt, zudem hatte er auch keine Ruhe beim Trinken. Wenn andere Babys die Nähe und Geborgenheit im Stillen fanden, guckte mein Sohn auf seine innere Uhr, die ihn irgendwie drängte. Hätte er die Brust zum Trinken mit durch die Gegend schleppen können, dann hätte er dies gemacht und hier und da mal einen Schluck genommen. Doch an einem Platz liegen bleiben und mit Rast und Ruh trinken, das war nicht zu seiner Zufriedenheit.

Zufriedenheit, ausgeglichen sein, mit den gegebenen Verhältnissen einverstanden sein, das klappte bei ihm nur selten. Seine Unzufriedenheit war der Motor, der uns alle vorantrieb. Und so verging das erste Babyjahr mit viel Protest von ihm und zum Ausgleich, Gott sei Dank, auch mit viel Freude.

Malik war von Anfang an ein unruhiger Geist, das ist so geblieben. Elf Jahre später sagte seine Klassenlehrerin beim Elternsprechtag genau die gleichen Worte: „Er ist auf der Klassenfahrt hin und her geklettert wie ein unruhiger Geist, am liebsten auf die höchsten Bäume hinauf“. Vielleicht ist es ja mal sein Ziel? Hoch hinaus, denn den Blick in die Tiefe lernte er sehr früh kennen.

Mit circa einem Jahr war das zerknautschte Aussehen sowie der große Kopf Vergangenheit. Malik entwickelte sich zu einem bildhübschen Jungen. Mit seinem blonden Haar, seinen blauen leuchtenden Augen, seiner kleinen Stupsnase und seinem auffallend zarten, femininen Gesicht, glich er einem kleinen Engel. Sein Wesen hatte für mich etwas Geheimnisvolles. Er war etwas Hübsches in Miniatur. Klein und rein. Und so verzauberte er viele Menschen, vor allem, wenn er lachte und strahlte, und das tat er viel.

Doch dieser Engel konnte auch toben, schreien, panisch werden und mit seinem starken Willen, seinem energiegeladenen Körper, mich als Mutter und auch andere erschüttern, an ihre Grenzen bringen. Er hatte seine eigenen Sonnen und seine eigenen Blitze in sich, und das alles zeigte er mir mit aller Gewalt in den nächsten Jahren.